Als Amely sich auf dem Bauernhof umsah, der nun ihr neues Zuhause sein sollte, spürte sie die misstrauischen Blicke der anderen Hühner im Nacken. "Seht doch, wie sie aussieht, schaut doch, wie sie hinkt", tuschelten sie. Sie kannte dieses Geflüster. Sie bestieg den Misthaufen und blickte in die Ferne: Ja, sie war wirklich anders. Sie hinkte auf einem Bein und legte keine Eier. Deswegen hatte der vorige Bauer sie verkauft. Sie hinkte weiter und stand vor einer Scheune. Dunkel sah es darin aus. Sie flatterte hinein und fand dort viele alte Dinge. Eine Armbanduhr, die noch tickte, nahm sie mit.
Am Abend lag sie abseits und lauschte auf das Ticken der Uhr bis sie einschlief. Als sie aufwachte, waren die anderen Hühner schon weg. Ein Glück. Nach dem Essen humpelte sie wieder zur Scheune, um ihre Ruhe zu haben. Gestern hatte sie den vorderen Teil erkundet, jetzt wollte sie weiter hineingehen. Sie sah sich alles genau an, bis sie unter der Treppe ein kleines Samtkästchen fand. Es war sehr schwierig zu öffnen, doch als sie es geschafft hatte, blieb ihr vor Staunen der Schnabel offen stehen. Dort lagen eine wunderschöne Halskette mit einem goldenen Steinchen daran und ein großer silberner Ohrring. Es glitzerte und funkelte wie Sterne am dunklen Himmelszelt. So wunderschön. Sie legte alles behutsam zurück in das Samtkästchen und versteckte es unter einem losen Dielenbrett.
Sie beschloss Dinge zu sammeln, die glitzerten und funkelten. So vergingen mehrere Tage. Von früh morgens bis spät abends suchte Amely nach Glitzerdingen. Amely war sehr stolz auf ihre Schätze und sie begann, sich an ihr neues Zuhause zu gewöhnen.
Eines Tages, die meisten Tiere waren in ihren Ställen, hinkte Amely über den Hof und sah sich wieder nach Glitzerdingen um.
Doch es schien wie verhext, heute fand sie einfach nichts! Sie wollte bereits aufgeben, als sie etwas in der Regenrinne glitzern sah. Auf dem Hof stand ein einziger Heuballen und der direkt vor der Regenrinne: Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, flatterte mit großer Anstrengung hinauf und von dort weiter in die Regenrinne. Nun sah sie ein glitzerndes Stück Aluminiumpapier und eine schimmernde Glasperle. Dann kam sie auf die Idee: Wenn sie nun schon einmal auf dem Dach war, warum sollte sie es nicht erkunden? Als sie oben auf dem Dachfirst angekommen war, genoss sie die Aussicht.
Plötzlich hatte sie das merkwürdige Gefühl beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und sah einen Hahn. Doch es war kein Hahn wie der im Stall. Er hatte zwar den Kopf stolz erhoben, aber keine bunten Federn. 'Er ist nur aus Eisen, nichts sonst', dachte Amely. Als sie etwas näher an ihn heran hinkte, hatte sie das Gefühl, dass dieser Hahn nicht ganz und gar unecht war: Ganz leicht hob und senkte sich seine Brust. Dieser Hahn lebte!
"Hallo", sagte Amely unsicher. Der Hahn bewegte sich ganz leicht. "Was bist du?"
"Ein Wetterhahn", antwortete der Hahn. Der Wetterhahn machte keinen bedrohlichen Eindruck, eher schien er traurig zu sein.
Deswegen fragte Amely weiter: "Was ist das, ein Wetterhahn?"
Der Wetterhahn antwortete: "Was das ist, weiß ich selber nicht so genau. Früher habe ich es geliebt, ein Wetterhahn zu sein. Ich hatte eine wunderschöne Aussicht und konnte auf die anderen Tiere herabsehen. Doch jetzt wünsche ich mir nur noch, ein echter Hahn zu sein. Mein Herz ist zwar aus Eisen, doch trotzdem kann ich fühlen. So gerne würde ich einfach wegfliegen."
Amely spürte, wie das Mitleid in ihr immer größer wurde.
"Fast sechzehn Jahre stehe ich nun schon hier. Am Anfang hatte ich eine Freundin, sie hieß Berta. Sie war eine Taube. Jeden Tag kam sie zu mir und erzählte Geschichten von der Ferne. Ich liebte Berta. Doch eines Tages fand sie einen Gefährten und kam nicht mehr zu mir", berichtete der Wetterhahn weiter.
Es begann zu regnen und Amely musste gehen: "Morgen komme ich wieder, dann sprechen wir weiter."
Der Wetterhahn nickte. Amely interessierte sich für die Geschichte des Wetterhahns und hatte das Gefühl, dass sie ihm auch etwas über sich erzählen konnte. Am nächsten Tag hatte der Regen aufgehört und sie flatterte wieder auf das Dach. Der Wetterhahn blickte in die Ferne. Vor ihm lag eine Packung Butterkekse.
"Guten Tag", sagte Amely.
Der Wetterhahn drehte sich um und nickte: "Greif zu."
Sie nahm sich einen Keks. Nach einer Weile fragte sie: "Wie waren denn Bertas Geschichten?"
Der Wetterhahn lächelte: "Ihre Geschichten waren das Einzige, das mich froh gemacht hat. Sie erzählte mir von Afrika, von den Affen, Löwen, Zebras und vielem anderen." Plötzlich verstummte er und sah sie traurig an. "Erzählst du mir eine Geschichte, bitte?"
Amely war verlegen, sie konnte keine Geschichten erzählen. Doch als sie den traurigen Blick des Wetterhahns sah, begann sie einfach. Sie erzählte von sich, ihrem trostlosen Leben und wie sie angefangen hatte, Glitzerdinge zu sammeln. Als sie geendet hatte, folgte ein langes Schweigen.
Dann nickte der Wetterhahn: "Ich kann dich verstehen." Das rührte Amely und sie merkte, dass sich etwas zu verändern begann. Der Wetterhahn begann zu lächeln und Amely wusste, dass es bei ihm genauso war und dass er von nun an ihr Freund sein würde.
Amely ging, als es dunkel wurde und als sie am Abend im Stroh lag, dachte sie an ihren neuen Freund. Sie war glücklich.
Am nächsten Tag flatterte sie wieder aufs Dach. Der Wetterhahn hatte ein Geschenk für sie: einen großen silbernen Ohrring. Da musste Amely lachen, denn es war genau so ein Ohrring wie der unter dem losen Dielenbrett.
Als der Wetterhahn das hörte, sagte er: "Das ist ein Freundschaftszeichen! Geh deinen rasch holen."
Amely holte ihren Ohrring und sie sahen, dass es haargenau die gleichen waren. An diesem Abend ging Amely noch glücklicher schlafen als am vorigen. In der Nacht träumte sie vom Wetterhahn. Wie er wohl aussehen mochte, wenn er richtige Federn hätte?
Als Amely den Wetterhahn am nächsten Tag besuchte, saß er traurig da und schaute in die Ferne.
"Was ist los?", fragte sie erschrocken.
Der Wetterhahn versuchte seine Tränen vor ihr zu verbergen, doch er schaffte es nicht. "Guck doch mal runter", schluchzte er.
Dort stolzierte der Hahn auf dem Hof, umringt von seinem Hühnervolk. "Ich wäre so gern wie er!"
Da bekam Amely ein ganz warmes Gefühl und schmiegte sich an ihn: "Ich hab dich lieb, so wie du bist."
Und da passierte es: Das Eisengefieder des Wetterhahns schmolz von ihrer Wärme. Unter dem geschmolzenen Eisen kamen Federn zum Vorschein, bunte und wunderschöne. Er schlug mit den Flügeln, seine Beine lösten sich vom Dach, er flog, und Amely flog hinter ihm her. Es fiel ihr überhaupt nicht mehr schwer zu fliegen, denn auf ihr krankes Bein war ein Tropfen geschmolzenes Eisen gefallen und sie hatte keine Schmerzen mehr. Und so flogen sie nebeneinander, bis sie am Horizont verschwanden.