- "Die zwei Dörfer" (3. Platz)
An einem fernen Ort, weit, weit weg auf dem riesigen Berg Brockenschwer, lag ein merkwürdiges Dorf. Es hieß Eckheim und bestand nur aus Ecken und Kanten. Sogar die Kartoffeln, die auf den rechteckigen Feldern geerntet wurden, sahen aus wie Würfel. Dort lebten zwei gute Freunde, Roman und Felix. Sie kannten sich, seit sie sich in der Krabbelecke ihres Kindergartens um die Quietschwürfel gebalgt hatten.
Nun besuchten sie zum allerersten Mal das Schulhaus am Fuße des Berges. Früh gingen sie los, denn sie wollten ihre erste Stunde auf keinen Fall verpassen. Schnell ließen sie die kantigen Häuser von Eckheim hinter sich und hüpften im Zick-Zack den Berg hinunter. Roman schüttelte seinen dunklen Wuschelkopf, als Felix links abbiegen wollte und rief laut: „Stopp! Da dürfen wir nicht entlanggehen!“
Ohne anzuhalten, drehte sich sein bester Freund um und zwinkerte ihm zu. In den graublauen Augen von Felix funkelte die Neugier. Blitzschnell setzte er seinen Weg fort. Roman lief zaghaft in Richtung Schule weiter. Beinahe wäre er seinem Freund gefolgt. Immer wieder blieb er stehen und lauschte, ob Felix ihn doch noch einholen würde. Doch dann beeilte er sich lieber, rechtzeitig zur Schule zu kommen.
In der Zwischenzeit führte der Waldweg Felix zu einer Straße aus runden Pflastersteinen. So eine Form hatte er noch nie gesehen.
„Wo sind die Ecken?“, fragte er sich. Gespannt und ein wenig ängstlich schlich er weiter. Hinter einer Kurve erblickte er im Sonnenlicht die lächerlichsten Bauwerke, die man sich nur vorstellen kann. Auf riesigen Kugeln hockten abgerundete Dächer mit rohrförmigen Schornsteinen darauf. Kreisrunde Fensterscheiben spiegelten den ozeanblauen Himmel wider.
Felix stoppte seinen Lauf und staunte. So einen Anblick hätte er sich nicht einmal erträumen können. Auf einmal öffnete sich eine der Türen. Ein Mädchen schlenderte heraus und bog auf den Gehweg neben der gepflasterten Straße ein. Als es die Kurve erreichte, an der Felix noch immer wie angewurzelt stand, erschrak es und stolperte über einen Kieselstein. Geschwind half er ihm wieder auf die Beine. Das Mädchen strich sein orangefarbenes Kleid mit den blauen Punkten glatt und schob die blonden langen Haare aus dem runden Gesicht. Die Kinder musterten einander. Dann fasste Felix sich ein Herz und grinste sein Gegenüber an:
„Ich bin Felix, und du?“
„Ich heiße Marlene und habe keine Zeit zum Quatschen, weil ich heute zum ersten Mal zur Schule gehe.“
„Genau wie ich!“
Erstaunt schaute Marlene den fremden Jungen an und schlug vor, gemeinsam zur Schule zu gehen. Gleich machten sie sich auf den Weg durch den Wald und den Berg hinunter. Während sie nebeneinanderhergingen wollte Felix von Marlene wissen, wieso es in ihrem Dorf keine Ecken gab.
„Mein Dorf heißt Rundhausen. Bei uns gibt es keine Ecken, sondern Kurven.“
„Naja, bei mir zu Hause in Eckheim gibt es ganz viele davon.“
„Seltsam“, überlegte Marlene. „In deinem Dorf ist alles eckig und in meinem alles rund. Wie kam es wohl dazu?“
„Das weiß ich auch nicht, aber wir können ja in der Schule einmal fragen, ob es dort jemand weiß“, schlug Felix vor.
Diese Idee fand Marlene gut. „Dann erfahre ich vielleicht auch, was ein Butzelbär ist und wo man Schnapppflanzen findet“, rief sie und raste los. Unterwegs blieb sie mit dem weiten Rock an den Dornen eines Brombeerstrauches hängen, verlor einen Schuh in einem Kaninchenloch und holte sich an einem Ast eine Schramme. Immer wieder musste Felix sie retten. Mit einigen blauen Flecken, runde bei Marlene und rechteckige bei Felix, kamen sie gerade noch rechtzeitig in der Schule an. Beide hofften, dass sie in derselben Klasse lernen würden, aber schon vor der Schultür wurden sie voneinander getrennt. Felix musste nach links durch die eckige Tür gehen, Marlene nach rechts durch die runde. Traurig sahen sie sich noch einmal an, bevor sie im Gebäude verschwanden.
Nach der ersten Stunde liefen Marlene und Felix auf dem Schulhof aufeinander zu und mussten plötzlich an einem Zaun, der mitten über den Platz verlief, anhalten. Verwirrt stellten sie fest, dass ihr Schulhof in eine eckige und eine runde Hälfte geteilt war. Trotzdem erzählten sie sich von ihren ersten Buchstaben und Zahlen. Felix hatte das A schreiben und bis 1 zählen gelernt. Marlene hatte viele O’s geschrieben und einen Kugelfisch gezeichnet.
In diesem Moment kam Roman dazu und wollte wissen, mit wem sein Freund sprach. Neugierig lauschte er dem Gespräch und staunte über Marlenes Erzählungen von Kreisen und Kugeln. Plötzlich flog ein eckenloses Objekt direkt auf Romans Kopf zu. Er erschrak und konnte nicht mehr ausweichen. Das Flugobjekt prallte von seiner Stirn ab und landete mitten auf dem Eckheimer Schulhof. Wie ein Fremdkörper lag der Ball auf dem Boden und zog viele neugierige Kinder an.
„Was ist das denn, wo sind die Ecken, was macht man damit?“, hörte man überall.
Auf der anderen Seite des Schulhofes ertönten Rufe, die den Ball zurück verlangten.
Roman fragte die Rundhausener Kinder: „Was ist ein Ball?“
Marlene erklärte: „Mit einem Ball kann man werfen und spielen. Das macht Spaß!“
Roman und Felix interessiert. Das wollten sie auch ausprobieren. Sogleich pfefferte Roman den Ball über den Zaun auf die andere Schulhofhälfte. Ein Rundhausener Junge hechtete hinterher und beförderte das eckenlose Objekt blitzschnell wieder zurück. Die Eckheimer Schüler begriffen sofort, wie dieses Spiel funktionierte. Auf beiden Seiten kamen immer mehr Kinder hinzu und spielten begeistert mit. Zufällig fuhren in diesem Moment die Bürgermeister beider Dörfer an der Schule vorbei. Die lauten fröhlichen Stimmen der Kinder bewogen sie dazu, anzuhalten und lockten sie an den Zaun. Was sie dort sahen, haute sie förmlich um. Das Unvorstellbare war geschehen: Die Kinder der so verschiedenen Dörfer Eckheim und Rundhausen spielten friedlich miteinander, als ob der Zaun mitten auf dem Schulhof überhaupt nicht vorhanden wäre.
Wütend brüllten die Bürgermeister: „Hört sofort auf damit! Eckheimer und Rundhausener spielen nicht miteinander, reden nicht miteinander, denken nicht aneinander!“
Daraufhin stoppte das Spiel und die Schüler beobachteten entsetzt, dass ihre Bürgermeister sich stritten wie kleine Kinder. Die Schulklingel schallte schrill über den Hof und unterbrach die beiden Streithähne. Stille breitete sich aus. Statt ins Schulhaus zu gehen, sahen die Kinder ihre Bürgermeister empört an und wollten wissen, wieso sie nicht miteinander spielen durften.
„Naja, es gibt da seit 300 Jahren dieses Gesetz, das Rundhausener und Eckheimer getrennter Wege gehen sollen. Auch ihr Kinder müsst euch, genau wie wir Erwachsenen, daran halten“, bekamen sie als Antwort.
Marlene erwiderte: „Warum gibt es eigentlich dieses Gesetz?“
Die Bürgermeister sahen sich ratlos an und zuckten mit den Schultern, weil sie den Grund nicht kannten.
Felix begriff, dass er handeln musste. Laut rief er: „Dann schafft doch das grundlose Gesetz einfach ab! Wir möchten nämlich ab jetzt immer zusammen spielen.“
„Jaaa, bitte!“, ertönte ein Chor aus Kinderstimmen.
Die Bürgermeister diskutierten miteinander und mit den Kindern. Dann kamen auch die Lehrer dazu, die nach den Kindern gesucht hatten. Zum Schluss hatten die Bürgermeister keine andere Wahl und ließen sich überzeugen, dieses Gesetz in der nächsten Ratsversammlung abzuschaffen. Bis dahin sollten die Kinder eine Sondergenehmigung zum Ballspielen bekommen. Glücklich sahen Marlene, Felix und Roman sich an und freuten sich auf die nächste Pause.